Leseprobe

Herr Jakob träumt – Kapitel 2

Als Pendler, der jeden Morgen mit dem Zug in eine benachbarte Universitätsstadt fuhr, war Herr Jakob gezwungen, sich einem strengen Schlaf-Wach-Rhythmus zu unterwerfen. Selten ging er abends nach zehn Uhr zu Bett, auch am Wochenende hielt er daran fest, früh aufzustehen. Manchmal vermutete er, dies könne einer tiefsitzenden Angst entspringen, ansonsten seine Disziplin zu verlieren und während der Woche nicht mehr rechtzeitig aus dem Bett zu kommen. Zwar war in seiner Abteilung bereits vor einigen Jahren gleitende Arbeitszeit eingeführt worden, doch sah er keinen Anlass, seine Gewohnheiten zu ändern und später als üblich zum Dienst zu erscheinen, auch wenn dies, mutmaßte er, ohnehin niemandem auffallen würde.
An einem Freitagmorgen im September, zwei Wochen nach seiner Vortragsreise, erwachte Herr Jakob jedoch erst gegen halb sieben und damit eine Stunde später als gewöhnlich. Zunächst nahm er an, er habe das Klingeln des Weckers überhört. Doch als er den kleinen Wecker mit der runden Scheibe, hinter der sich die Zeiger langsam bewegten, in die Hand nahm, um sich noch einmal der Uhrzeit zu vergewissern, musste er feststellen, dass der Alarm ausgeschaltet war. Er erinnerte sich genau, die Weckfunktion am Vorabend aktiviert zu haben, offenbar hatte er den Wecker im Schlaf ausgeschaltet, ohne dass er sich dessen entsinnen konnte. Er verweilte noch einen Augenblick im Bett, mit dem Rücken an das aufgerichtete Kissen gelehnt und die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und plötzlich stieg in ihm die Erinnerung an etwas auf, das ihm geradezu lächerlich erschien.
Hatte er nicht eben noch neben einem Huhn auf einer Parkbank gesessen und sich, während das Huhn seine nächste Frage zu formulieren schien, leicht nach hinten gewendet, von wo er ein störendes Geräusch zu hören meinte? Und hatte er nicht an dem Baum, der hinter der Bank stand, auf irgendetwas gedrückt, das aus der Rinde hervor lugte und offenbar für das Geräusch verantwortlich war? Herr Jakob meinte sich zu erinnern, dass das Geräusch, ein Piepen, das sich in schneller Folge wiederholte, sogleich aufgehört hatte, woraufhin ihm das Huhn, das immer noch über etwas zu grübeln schien, einen dankbaren Blick zugeworfen hatte. Langsam formten sich weitere Einzelheiten zu einem Gesamtbild und Herr Jakob, der sich noch schläfrig fühlte und die Augen wieder geschlossen hatte, glitt unbemerkt in einen Zustand zurück, der dem eines langsamen Aufwachens glich. Nur dass sich sein Bewusstsein diesem Zustand nun aus entgegengesetzter Richtung näherte, ihn wie eine Zwischenstation passierte und hinter sich ließ, um sich in einer Welt wieder­zufinden, die es erst kurz zuvor verlassen hatte.
Dort ging Herr Jakob eine Allee entlang, in deren Mitte sich ein breiter Grünstreifen erstreckte, der von einer kniehohen metallenen Einfassung umsäumt war. Auf beiden Seiten des Grünstreifens befand sich ein Fußweg, der unter mächtigen Kastanienbäumen im Schatten lag, neben den Fußwegen verlief eine Straße, auf der keinerlei Verkehr herrschte. Auch waren nur vereinzelte Fußgänger auszumachen, die in seltsam gemächlichem Tempo über die Allee schlenderten. Ja, fast schien es, als könne es an diesem Ort nichts geben, was in irgendeiner Weise Eile erforderte oder was irgendeiner Erledigung bedurft hätte. Am Rande der Fußwege standen in regelmäßigem Abstand Bänke und Herr Jakob, der das Gefühl hatte, an diesem Ort müsse es möglich sein, an überhaupt nichts zu denken, näherte sich einer der Bänke. Er setzte sich, lehnte sich nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und spürte eine angenehme Wärme im Gesicht. Er schloss die Augen und fiel in einen leichten Schlummer.
Als er die Augen wieder öffnete, war er erstaunt, nicht mehr allein auf der Bank zu sitzen. Ein Huhn hatte neben ihm Platz genommen, in dessen braun schimmerndem Gefieder eine einzelne weiße Feder glänzte. Es schien die Spaziergänger zu beobachten, wandte den Kopf mal nach links, mal nach rechts und Herr Jakob wunderte sich, dass es nicht, wie er es sonst bei Hühnern gesehen hatte, mit ruckartigen Bewegungen den Kopf vor und zurück warf; vielmehr war sein Verhalten von einer gewissen Trägheit gekennzeichnet. Schließlich wandte es den Kopf in seine Richtung und blickte ihn an.
»Aha, Sie sind wieder da«, sagte es und hielt den Kopf schräg. »Es ist heute besonders ruhig hier, finden Sie nicht?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Herr Jakob, »ich war wohl nicht oft genug hier, um das beurteilen zu können.«
»Soso«, sagte das Huhn. Dann sah es schweigend zu einem Spaziergänger hin, der über die metallene Einfassung gestiegen war und nun auf dem Grünstreifen stand, einen schwarzen Zylinder in der einen und ein Buch in der anderen Hand haltend, den Kopf in den Nacken gelegt und in den Himmel blickte, als wolle er den ruhigen Zug der Wolken beobachten.
»Ich habe gleich bemerkt, dass Sie neu hier sind«, setzte das Huhn das Gespräch fort.
»Ach?«, sagte Herr Jakob. Auch er beobachtete nun den Spaziergänger, der einen altmodisch wirkenden schwarzen Anzug trug, in dem er wie ein Pinguin wirkte.
»Sie haben sich auf die Bank gesetzt, den Kopf in den Nacken gelegt, sich die Wärme ins Gesicht scheinen lassen und statt sodann tief und fest einzuschlafen, sind Sie nur kurz eingenickt. Als hätten Sie Angst, Sie könnten irgendetwas verpassen.«
»Ach«, sagte Herr Jakob, der auf der gegenüberliegenden Seite einen Spaziergänger bemerkt hatte, der stehen geblieben war und konzentriert auf den Boden blickte, als beobachte er dort einen langsam kriechenden Wurm.
»Sehen Sie«, sprach das Huhn mit ernst klingender Stimme, »genau das ist das Problem mit den Neuen. Sie begreifen diesen Ort nicht. Sie brauchen meist eine lange Zeit, bis sie sich auf ihn einlassen können.«
»Ja?«, fragte Herr Jakob, der spürte, wie eine innere Unruhe von ihm Besitz ergriff, gleich so, als habe er etwas Wichtiges zu erledigen, woran er sich jedoch nicht genau erinnern konnte.
»Dies ist ein Ort der Muße.« Das Huhn blickte ihn durchdringend an. »Hier gibt es nichts, was erledigt werden müsste, hier gibt es auch nichts, was Sie verpassen könnten und hier können Sie nur den Fehler machen, dies nicht begreifen zu wollen.«
»Mhm.« Herr Jakob schwieg, er hatte das Gefühl, dringend irgendwohin zu müssen. Als er den Blick unruhig über die Allee schweifen ließ, entdeckte er ein Eichhörnchen, das rechts neben der Bank unter einer Kastanie saß. Es schien tatsächlich nur dort zu sitzen und die Nuss zu betrachten, die vor ihm lag. Sein hellbraunes Fell glänzte in der Sonne, hin und wieder bewegte sich sein buschiger Schwanz gemächlich hin und her. »Entschuldigen Sie«, sagte Herr Jakob und erhob sich, »ich muss jetzt wirklich weiter.«
Das Huhn lüpfte zur Verabschiedung kurz sein Hinterteil. »Ich bin sicher, Sie kommen wieder«, sagte es, »ich sehe Ihnen an, dass Sie einer von denen sind, die sich diesem Ort nicht entziehen können.«
»So?«, sagte Herr Jakob, der schon im Gehen begriffen war.
»Ja«, sagte das Huhn. Herr Jakob hörte es nicht mehr, er hatte sich bereits abgewandt. Er wollte den Weg abkürzen, und obschon er nur eine verschwommene Vorstellung davon hatte, wo er überhaupt hinwollte, glaubte er zumindest die Richtung zu kennen und zu wissen, dass der Weg quer über den Grünstreifen kürzer sei. Beim Übersteigen der Metalleinfassung stolperte er jedoch, versuchte mit rudernden Armen das Gleichgewicht wiederzugewinnen, sah dabei aus dem Augenwinkel den Spaziergänger, der noch immer aufmerksam und ruhig in den Himmel blickte und spürte dann einen harten Schlag, begleitet von einem dumpfen Geräusch.
Herr Jakob rieb sich die schmerzende Hüfte, stützte sich mit dem Ellenbogen am Bettrand ab und stand vorsichtig auf. Ihm war schwindelig, er wusste nicht, wie spät es war und welcher Tag überhaupt war. Er hätte sich nicht gewundert, wenn auf dem Sims vor dem Schlafzimmerfenster ein Eichhörnchen gesessen hätte, das nichts weiter tat, als eine Nuss zu betrachten. Herr Jakob hatte das unbestimmte Gefühl, dieser Traum könne ein weiterer Hinweis darauf sein, dass sich irgendetwas in seinem Leben langsam veränderte und dass er sich unaufhaltsam auf einem Weg befand, dessen Ziel er nicht, oder jedenfalls noch nicht, kannte.
Am nächsten Tag, Herr Jakob hatte traumlos geschlafen, kam Frau Rettig zum Putzen. Er verspürte kurz den Impuls, ihr von seinem Traum zu erzählen. Doch dann unterließ er es, er war sich nicht sicher, ob sie, die auf ihn stets den Eindruck großer Nüchternheit machte, dafür das rechte Verständnis aufbringen würde, das ihm selbst noch zu fehlen schien. Er überließ Frau Rettig das Haus und fuhr ins städtische Krankenhaus, um in dem angegliederten Hospiz seine Nachbarin zu besuchen, zu der er im Laufe der Jahre ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt hatte.
Frau Wanke, eine ehemalige Opernsängerin in den Siebzigern, hatte keine Kinder und war nie verheiratet gewesen, ihre zahlreichen Freunde waren über die ganze Welt verstreut. Beim ersten Besuch im Hospiz vor einigen Wochen war Herr Jakob befangen gewesen. Nie zuvor hatte er sich in diese Welt des Sterbens und der Abschiede hineinbegeben, er war unsicher gewesen, ob nicht ein bestimmtes Verhalten von ihm gefordert sein könnte. Er fühlte sich wie an einem Ufer stehend, von dem die anderen gegen ihren Willen eingeschifft wurden. Doch mehr und mehr hatte er die Ruhe und Verlangsamung gespürt, die an diesem Ort herrschten. Was draußen wichtig schien, hatte hier keine Bedeutung mehr, und was Herrn Jakob in seiner Welt beschäftigte, fühlte er hier weit von sich abrücken.
Frau Wanke schlief, als er das Zimmer betrat. Er setzte sich in den Sessel neben ihrem Bett und hörte auf ihren leisen Atem. Er blickte aus dem Fenster, vor dem ein großer Ahornbaum stand, und hing seinen Gedanken nach. Es erschien ihm seltsam, doch er hätte die Unterhaltung mit dem Huhn gerne fortgesetzt. Er konnte sich nicht entsinnen, warum er im Traum in solcher Eile gewesen war und was als Nächstes passiert wäre, wäre er nicht aufgewacht. Wenn er weniger eilig gewesen wäre, hätte er dann gewusst, dass es sich um einen Traum handelte? Er überlegte, was das Huhn damit gemeint haben könnte, dass er sich jenem Ort nicht entziehen könne. Er würde vielleicht wieder davon träumen, und er wünschte sich dies sogar, doch würde er dann etwa, auch wenn er mehrere Wecker stellte, diese alle überhören und erst gegen Mittag oder noch später erwachen?
Es klopfte an der Tür, ein Pfleger betrat das Zimmer und begrüßte Herrn Jakob mit einem freundlichen Kopfnicken. Als er sah, dass Frau Wanke ruhig und tief schlief, verließ er das Zimmer wieder. Herr Jakob sah in die Krone des Ahorns, dessen Blätter rot und gelb leuchteten und die vom Herbstwind allmählich vom Baum geweht wurden. Der Himmel war zugezogen und leichter Regen hatte eingesetzt. Ob das Huhn jetzt auch im Regen sitzt?, dachte Herr Jakob, verwarf diesen Gedanken jedoch sogleich kopfschüttelnd. Langsam erwachte Frau Wanke. Sie wandte den Kopf und sah sich im Zimmer um, als müsse sie sich zuerst orientieren.
»Ach, sind Sie schon lange da?«, sagte sie mit schwacher Stimme, als sie Herrn Jakob erblickte, der seinen Sessel näher an ihr Bett rückte. Herr Jakob hätte nicht sagen können, wie lange er sich schon im Zimmer befand, stets ging es ihm so, dass Zeit keine Bedeutung mehr zu haben schien, wenn er bei Frau Wanke war.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte er. Er half Frau Wanke, sich im Bett aufzurichten, indem er einen Schalter am Rande des Bettes betätigte, der das Rückenteil anhob.
»Sie sehen anders aus als sonst«, stellte sie mit leiser, doch nun klarerer Stimme fest.
»Ja?«, fragte Herr Jakob erstaunt.
»Ja, wie in Gedanken an etwas gefangen, das Sie über die Maßen beschäftigt.«
»Nun – vielleicht darf ich Ihnen etwas erzählen? Etwas, das mir passiert ist und auf das ich mir keinen Reim machen kann?«
Frau Wanke lächelte seltsam bedeutungsvoll. Als ob sie eine Ahnung hat von der Absurdität meines Traums, dachte Herr Jakob. Dann erzählte er ihr von der Allee, der einladenden Bank, den merkwürdigen Spaziergängern, die weder ein Ziel zu haben schienen, noch irgendeine Eile an den Tag legten. Er erzählte von dem Eichhörnchen, das nichts weiter getan habe, als eine Nuss zu betrachten und dass er, als er das Eichhörnchen und die Nuss mit ebensolcher Faszination betrachtete habe, eine störende Unruhe in sich verspürt habe.
Frau Wanke schmunzelte. »Haben Sie das wirklich geträumt?« sagte sie, »es klang vielmehr so, als hätten Sie es erlebt.«
»Ich bin ja froh, dass ich es nur geträumt habe«, sagte Herr Jakob nachdrücklich.
»Ach«, sagte Frau Wanke, und dann, nach einer Pause, in der sie über etwas nachzugrübeln schien:
»War das denn schon alles?«
»Was meinen Sie?« Herr Jakob fühlte sich ertappt.
»Ich dachte, es ginge vielleicht noch weiter«, bemerkte Frau Wanke.
So fühlte sich Herr Jakob gezwungen, auch von seinem Gespräch mit dem Huhn zu erzählen, das ihm, wenn er es recht bedachte, geradezu peinlich war. Doch nicht das Gespräch an sich, sondern dass er sich zumindest im Traum nicht einmal gewundert hatte, eine Unterhaltung mit einem Huhn zu führen und er sich zudem eingestehen musste, dass ihn ein Huhn auf eine Art und Weise nachdenklich machte, wie dies zuvor noch kein Mensch vermocht hatte. Frau Wanke wirkte in keiner Weise erstaunt über das, was ihr Herr Jakob erzählte.
»Sehen Sie«, sagte sie, »manchmal weiß vielleicht sogar ein Huhn mehr, als wir selbst glauben zu wissen.«
»Soso«, sagte Herr Jakob.
Er blieb noch eine halbe Stunde bei Frau Wanke, dann verabschiedete er sich und versprach, in einigen Tagen nochmals zu kommen. Nachdenklich verließ er das Hospiz. Auf dem Weg nach Hause hatte er Schwierigkeiten, sich wieder an die Ruhelosigkeit zu gewöhnen, die er draußen bemerkte und die er wesentlich stärker empfand, wenn er aus dem Hospiz kam. Die Fußgänger schienen mit atemberaubender Geschwindigkeit über die Gehwege zu eilen, und als er die Straße vor seinem Haus überqueren wollte, wäre Herr Jakob beinahe von einem heranrasenden Radfahrer überfahren worden, der wütend die Faust ballte, nachdem er ihm ausgewichen war. Herr Jakob empfand es nicht zum ersten Mal so, dass sich alle um ihn herum zu schnell bewegten, ja dass die Welt um ihn herum geradezu einem aberwitzigen Zeittakt unterworfen war. Er wunderte sich an jenem Tag im späten September einmal mehr, dass sich diese Empfindung offenbar von Woche zu Woche steigerte.